Wachstum. Veränderung. Das Streben nach etwas. Es ist schon möglich, dass das ein grundlegender Wunsch ist, der in den meisten Menschen auf ganz natürliche Weise vorhanden ist. Sonst würden wir wahrscheinlich immer noch auf den Bäumen sitzen oder bestenfalls in Höhlen wohnen. Fortschritt ist also nicht etwas, was ich für verdammenswert oder schlecht halte. Ich glaube allerdings, dass dieses Streben in unserer Gesellschaft ziemlich entgleist ist und auch in ganz beinharter Weise instrumentalisiert wird, um uns "systemkonform" zu machen und zu halten.
Eingefleischt Neo-Liberale werden jetzt vielleicht laut aufschreien und nicht mehr weiterlesen, weil sie sich denken, dass da schon wieder ein Links-Linker am Werken ist.
Hey - falls du noch da bist. Ich wünsch mir, dass du weiterliest. Einfach nur ein Wunsch - von Mensch zu Mensch.
Da ich mich viel mit Coaching und verwandten Themen beschäftige, bekomme ich von den Social-Media-Algorithmen jede Menge entsprechenden Content, wie das ja bekanntlich auf Neudeutsch heißt, um die Ohren geschmissen. Und da geht es meist darum, dass mir suggeriert wird, dass 6-stellige Monatseinkommen mein Geburtsrecht sind. Bei 5-stelligen wird schon vielsagend mit der Wimper gezuckt. Und von 4-stelligen Armutswürsteln wollen wir doch erst gar nicht reden. Selbstverständlich ist es ja auch ganz leicht, dieses Geburtsrecht durchzusetzen - man muss ja nur eine eben auch 6-stellige Summe in ein Programm investieren, mit dessen Hilfe man das ganz schnell ganz sicher auf die Erde herunterbringen kann.
Und meistens tauchen in den Bildern, mit denen diese Machwerke versehen sind, immer wieder Luxusjachten und Palmenstrände als stereotype Versatzstücke der ersehnten Glückseligkeit auf.
Und an dieser Stelle möchte ich jetzt mal meine Stimme erheben: NEIN, 6-stellige Monatseinkommen sind NICHT unser Geburtsrecht. Sie sind ein bedenklicher Auswuchs einer Werteverschiebung und -verdrehung, die unser Planet nur mehr sehr kurze Zeit ertragen kann und wird.
Vielleicht empfinden es manche als hoffnungslos altmodisch. Tja, damit muss ich dann wohl leben. Aber ich rufe an dieser Stelle tatsächlich den berühmten "kategorischen Imperativ" des ehrenwerten Immanuel Kant auf: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Echt jetzt. 1 Milliarden Luxusjachten auf den Weltmeeren (8 Personen werden da pro Schiff wohl draufpassen). Das wird nicht einmal näherungsweise funktionieren. Und natürlich läuft mir bei diesen Bildern auch das Wasser im Mund zusammen, das gebe ich gerne zu. Aber ist es wirklich gesund, etwas anzustreben, was sich einfach mit einem Fortbestand der Welt, so wie wir sie kennen, nicht ausgehen kann. Ist nicht eine Zillenfahrt auf der Donau auch ein wunderbares Erlebnis.
Na ja, da krakeelt jetzt einer rum, der sich das nicht leisten kann und daher die Moralkeule über diejenigen schwingt, die sich's leisten können (oder das wenigstens anstreben). Es mag ja durchaus sein, dass das auch mitspielt. Wer kennt schon seine eigenen Mechanismen und Beweggründe wirklich bis in die letzten Tiefen. Aber ich hoffe zumindest, dass meine Motivation hier doch hauptsächlich aus einer anderen Quelle kommt. Nämlich aus der, einen kleinen Baustein dazu beizutragen, gegen den vorherrschenden Mainstream auf eine mögliche andere Sichtweise auf das Thema Wachstum und Entwicklung hinzuweisen. Und die hat wiederum mit meinem Hauptthema EGO und EGO 2.0 zu tun. EGO 2.0 ist nicht fertig mit allem. Auch EGO 2.0 wächst und erblüht. Aber auf eine harmonische Weise, die mit den Systemen in denen es sich befindet, in Einklang steht. Der Wachstumstrieb von EGO wird nie befriedigt. Egal, was erreicht wurde, die Karotte baumelt immer weiter vor der Nase und erlaubt kein Innehalten und Durchatmen. Das bestimmende Grundgefühl des EGO-bestimmten Wachstums ist die Gier. Da ist es eine Katastrophe, wenn die Wirtschaft einmal um weniger als 2% pro Jahr wächst. Obwohl es auch bei klarer Überlegung keinen (wirtschafts)mathematischen Nobelpreis erfordern würde, um zu erkennen, dass sich unbegrenztes Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen einfach nicht ausgehen kann, und dass daher mit größter Dringlichkeit andere Modelle erforderlich sind.
EGO 2.0 tauscht das Grundgefühl der Gier gegen das Grundgefühl der Erfüllung ein. Da gibt es Phasen der Veränderung. Und solche der Stille. Es darf auch einmal genug sein. Und dann wieder anders. Und nicht immer notwendigerweise mehr. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass es manchmal sehr schwierig ist, zwischen dem Wachstumswunsch 2.0 und dem Nachlaufen nach der Karotte zu unterscheiden. Im Nachhinein ist es relativ einfach zu erkennen: Wenn ein Wunsch erfüllt ist, bin ich dann wirklich zufrieden? Oder klopfen, wenn ich genau hinhöre, sofort die nächsten Kandidaten für die Befestigung am Dreamboard an? "Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge." schreibt Wilhelm Busch. Das ist die endlose Wunschschleife des EGO. Und dieser Betriebsmodus resultiert in einer enormen Grundanspannung, die Körper, Emotionen und Geist umfasst.
Wenn nach einer Bewegungsphase auch wieder Ruhe einkehren darf, die nicht sofort wieder ins Getrieben-Sein verfällt, wenn sich Körper, Emotionen und Geist in der Qualität der Gegenwart entspannen können, wenn ich bei dem, wo ich mich bewegen will, nicht nur mein eigenes Wohlergehen im Sinn habe, sondern in empathischer Offenheit das große Ganze mitdenken und mitfühlen kann, dann bin ich auf der richtigen Spur.
Möge mir das immer öfter gelingen.
Und möge das auch allen anderen Wesen immer öfter gelingen.
Ich glaube zuversichtlich daran, dass wir dann als Menschheit noch eine Chance haben.
Nur dann.
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