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Die dunkle Nacht der Seele

Ein anderer Blick auf Weihnachten




Passend zur dunkelsten Zeit des Jahres möchte ich mich heute einem Thema widmen, an dem vermutlich niemand vorbeikommt, der sich auf einem spirituellen Entwicklungsweg befindet – der „dunklen Nacht der Seele“.


Der Begriff stammt von Johannes vom Kreuz, einem christlichen Mystiker, der im 16. Jhdt. in Spanien gelebt hat. Die dunkle Nacht der Seele ist ein Zustand, der recht verzichtbar wäre. Er kann sich in körperlichen Schmerz- und Krankheitszuständen, in Depressionen, Ruhe-, Rast- und Schlaflosigkeit, aber auch in Lähmung und Stagnation, in Zweifel und Verzweiflung bis hin zu suizidalen Tendenzen äußern. Diese Phase kann in Wellen kommen, aber sich auch monate- bis jahrelang als allzu treuer Wegbegleiter einnisten.


In buddhistischer Terminologie würde ich den Grund für die Misere so beschreiben: Das Ego wird in seinen Spielchen, Verstrickungen und Verwicklungen – zumindest zum Teil entlarvt. Identifikationen und neurotische Konzepte beginnen ihre Funktionalität zu verlieren. Du bist aber auch noch nicht „angekommen“, nicht in der vollen Erkenntnis, dessen, wie die Dinge wirklich sind. Es ist ein nicht mehr dort und noch nicht da, ein Sitzen zwischen zwei Stühlen und ein in der Luft hängen, ohne einen wirklich kuscheligen Platz des Rastens zu haben. Im Christentum würde man vielleicht sagen: Du bist der Welt irgendwie abhanden gekommen, siehst aber noch nicht wirklich das Angesicht Gottes.


Beschissen – ein netteres Wort fällt mir an dieser Stelle wirklich nicht ein. Ein Zurück gibt es nicht mehr, ein Vorwärts ist im Moment auch nicht möglich.


Metaphern für diese unerquickliche Lage finden sich in allen (mir bekannten) spirituellen Traditionen: Jesus, der 40 Tage in der Wüste mit dem Satan ringt. Odin, der im Weltenbaum hängt, um dort das tiefste Wissen zu erlangen und, um zu wirklich zu sehen, ein Auge opfert. Die trauernde Maria unter dem Kreuz und natürlich der Gekreuzigte selbst. Buddha, der unter dem Baum des Erwachens von Mara „geprüft“ wird. Avalokiteshvara, der im Angesicht des Leidens der Wesen in 1000 Teile zerspringt (und dann von Amitabha in einer 1000-armigen Form wieder zusammengesetzt wird). Und diese Liste könnte jetzt vermutlich noch endlos fortgesetzt werden. Für mich ist dieses in so vielen Bildern auftretende Motiv ein klarer Hinweis darauf, dass das eine universelle Erfahrung ist, die ein natürliches Phänomen auf unserem Weg darstellt.


Was also tun, wenn du dich in diesem Stadium befindest?

Zunächst: nicht jeder Männerschnupfen ist die dunkle Nacht der Seele. Und nicht jede Unpässlichkeit ein Hinweis auf spirituellen Fortschritt.


Aber wenn es auf deinem Weg Phänomene gibt, die den geschilderten gleichen und die scheinbar keine wirklich logische Erklärung haben: Bleib auf deinem Weg, so gut du kannst! An dieser Stelle ist eine kontinuierliche (Meditations)Praxis eine unschätzbar hilfreiche Sache. Wenn du eine spirituelle Gemeinschaft (Sangha) hast, die an dieser Stelle auffangen und behüten kann – Halleluja. Gut, wenn man sich darum kümmert, wenn man noch in lichtvolleren Zeiten unterwegs ist. Und ein spiritueller Wegbegleiter (in vielen Traditionen würde man „Guru“ sagen - aber mit diesem durchaus nicht unproblematischen Begriff möchte ich mich ein anderes Mal auseinandersetzen – vielleicht ist bis dahin der Begriff des „Bergführers“ nützlich, der auch nichts anderes ist, als ein Wanderer, aber (hoffentlich) ein wenig geübter und terrainerfahrener, ist in dieser Situation auch eine große Hilfe, wenn du da wirklich Vertrauen haben kannst und eine führende Hilfestellung auf Augenhöhe und ohne Machtmissbrauch stattfindet.


Und was auch immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden soll und eine wirkliche Erleichterung bringt: So wie alle Phänomene, ist auch die dunkle Nacht der Seele vergänglich. Das heißt es gibt eine Morgendämmerung und einen Sonnenaufgang. Leider ohne bekanntes Datum und ohne bekannte Uhrzeit.


Und das wäre in unserem Sinne dann Weihnachten, die Wiedergeburt des Lichts. Und wenn dieses Fest nun wie jedes Jahr ansteht, können wir es mit dieser zusätzlichen Bedeutungsebene für uns vielleicht noch intensiver nutzen.


Mögen alle Wesen, die sich in diesem Zustand befinden, möglichst bald ihr persönliches Weihnachten erleben.


Mögen alle Wesen, die diesen Zustand noch vor sich haben, den Mut haben, sich dieser Herausforderung zu stellen.


Und dass alle Wesen, die aus diesem Zustand schon erwacht sind, hilfreich zur Verfügung stehen – dafür benötigt man kein Wunschgebet, dass ist eine zwingende Folge dieses Prozesses. Wie wunderbar.

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