Viele Menschen, die sich mit Meditation, spiritueller Praxis und verschiedenen Formen der Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen, kennen das: Auf dem Sitzkissen fühlen wir grenzenlose Weite, strahlendes Licht, unendliches Mitgefühl und bedingungslose Liebe.
Dann stehen wir auf, und dieser freudvolle Zustand versüßt uns auch noch den Morgenkaffee. Und spätestens, wenn wir mit dem Auto im Morgenstau stehen, wir von einem unfreundlichen Kunden angepflaumt werden oder uns eine der in der schnöden Welt so zahlreich vorhandenen Läuse über die Leber läuft, ist er wieder da: der Alltagsfrust, die Unzufriedenheit, der Zorn, die Trauer oder eine der anderen Lieblingsemotionen, die wir im Angesicht unseres göttlichen Potenzials doch schon überwunden geglaubt hatten. Und jetzt nehmen wir diese Emotionen noch viel stärker und schmerzlicher wahr, weil wir den Geschmack des Alternativzustandes noch so gut in Erinnerung haben. Oder: In einem spirituellen Retreat oder Seminar haben wir’s jetzt endlich begriffen. Wie konnten wir ES denn nur so lange nicht sehen. ES ist doch so einfach, so klar, so unendlich glückseligmachend. Wir schweben auf Wolke 7, die Posaunen der Erleuchtung erklingen. Alles ist gut. Wir sind am Ziel. Solche Erlebnisse könn(t)en tatsächlich lebensverändernd sein. Nur: Meist ist spätestens drei Wochen nach Seminarende wieder alles mehr oder weniger beim Alten. Vielleicht eine schöne Erinnerung, die wir ins Regal unserer Erfahrungen stellen, wie eine Nippesfigur, die still und stumm von der Staubschicht des Vergessens bedeckt wird. Vielleicht kommt sie wieder einmal in unser Blickfeld, und dann versetzt es uns einen Stich ins Herz, und wir reden uns das, was wir so intensiv erfahren haben, klein. Oder wir buchen von der Sehnsucht nach Wiederholung getrieben das nächste Seminar, und setzen den Zyklus von Neuem in Gang. Ich kenne das jedenfalls sehr gut. Und ich habe dieses Spiel über viele Jahre mit großer Leidenschaft gespielt. Aber irgendwann hatte ich dieses Spiel dann auch satt und bemühte mich, eine Alternative zu dieser Achterbahn zu finden. Das eine magische Rezept, das die Überwindung dieses Grabens zwischen diesen verschiedenen Lebenswelten mit einem Fingerschnippen ermöglicht, das gibt es wohl nicht. Und wenn ja, dann hat es mir noch niemand verraten. Was es aber sehr wohl gibt, ist die Möglichkeit, durch einen bewussten und achtsamen Übungsweg die Welten der Spiritualität und des Alltags zu verbinden. Diese Peak-Erlebnisse, diese Blicke hinter den Vorhang der Welt – das sind wunderbare Referenzerfahrungen, die uns als Motor auf unserem Weg dienen können. Die eigentliche Praxis ist dann viel weniger spektakulär. Aber umso nachhaltiger – und diese Alltagspraxis ist letztlich das, was unser Leben dann wirklich nachhaltig verändert. Diese Grenze zwischen der schönen Welt der Meditation und dem Alltag wird durchlässiger, wenn es dir gelingt, dich mit einer „Mikro-Praxis“ immer wieder mit diesem ursprünglichen Geschmack der Weite, der Liebe und des Absoluten zu verbinden. Gelegenheiten dazu gibt es genug: • im Auto, wenn der Vordermann gerade so langsam vor dir dahingeschlichen ist, dass natürlich genau du nicht mehr über die Ampel gekommen bist • an der Supermarktkasse, wenn du wieder einmal an der langsamsten Kasse anstehst • bei der Straßenbahnhaltestelle oder in der Straßenbahn, wenn schon wieder ein nerviges Kind schreit oder für besonders Fortgeschrittene: • wenn dich der Chef anschreit • wenn der oder die Liebste ausnahmsweise gar keinen guten Tag hat • oder – jetzt wird’s besonders heiß – wenn du dir selbst so richtig auf die Nerven gehst und dich am liebsten selbst zum Mond befördern könntest Ich bin sicher, du kannst diese Liste je nach deinen Lebensumständen noch um viele individuelle Punkte ergänzen. Und meine Einladung ist, das auch tatsächlich zu tun. Du brauchst in diesen Situationen dann gar nichts Spektakuläres zu tun. Wenn es gerade möglich ist, könntest du zum Beispiel die Augen schließen und ein paar tiefe Atemzüge machen und dabei deinen Herzraum wahrnehmen. Das reicht oft schon völlig aus. Vielleicht arbeitest du auch gerne mit Mantren, mit inneren Bildern, mit Affirmationssätzen oder einem kurzen Gebet. All das kannst du hier perfekt nützen. Die Situation wird sich dadurch nicht wie durch Zauberhand verändern. Aber was sich verändert, ist deine Wahrnehmung der Situation. Die angemessenen Größenverhältnisse werden wieder hergestellt. Und sehr oft ist dann ein Lächeln kaum vermeidbar. Wenn du so ein schwieriger Fall bist wie ich, dann wird dir möglicherweise auffallen, dass dir diese einfache und mit großer Reproduzierbarkeit funktionierende „Technik“ gerade dann nicht einfällt, wenn du sie am Notwendigsten brauchst. Keine Sorge, das ist völlig normal, denn in unseren emotionalen Stressmomenten fahren wir normalerweise auf Autopilot. Das heißt, wir greifen auf Gewohnheitsmuster zurück, die wir möglicherweise schon viele Jahre eingeübt haben. Wenn wir aber erkennen, dass diese Gewohnheitsmuster nicht glücksfördernd sind, gibt es eine gute Nachricht: Wir sind diesen Mechanismen nicht ausgeliefert, sondern können etwas dagegen tun. Hol dir in einer ruhigen Stunde – ich mache das meist am Ende des Tages – die Situationen noch einmal her und durchlebe sie vor deinem inneren Auge noch einmal. Und dann stell dir deine Reaktion vor, die du dir in dieser Situation gewünscht hättest. Die Milde, die Freundlichkeit, die Gelassenheit, den Humor. Spiel die Szene durch wie in einem Film oder Theaterstück. Und – ganz wichtig: Geißle dich nicht dafür, dass du diesmal noch nicht so reagiert hast, sondern freu dich daran, dass du dir überhaupt eine Alternative vorstellen kannst. Und dass du – wenn du dir Zeit gibst, und immer wieder die alten Muster mit den neuen Bildern übermalst – auf dem Weg bist, eine Version von dir selbst zu erschaffen, in der du immer mehr zu der Version deiner Selbst wirst, für die du dich in deinen hellsten, wachsten Augenblicken entschieden hast
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