There’s a crack, a crack in everything, that’s how the light gets in.
Diese Zeilen singt Leonard Cohen in seinem genialen „Anthem“. Ein Song, den ich mir auf Dauerschleife lege, wenn die Urwunde sich wieder einmal besonders intensiv meldet.
Die Urwunde. Das ist etwas, was jeder Mensch hat. Unabhängig davon, ob sich in seiner persönlichen Geschichte etwas besonders Dramatisches ereignet hat oder nicht.
Die Urwunde, das ist das Erkennen, dass wir aus der ursprünglichen Einheit, so wie sie wohl im Mutterschoß noch als Nachhall des Paradieses vorhanden war, herausgefallen sind. Dass es auf dieser Welt nicht nur die Liebe gibt. Dass wir auf einer tiefen Ebene letztlich allein sind. Und mit der Ungeheuerlichkeit des Todes konfrontiert.
Es gibt Phasen in unserem Leben, da nehmen wir sie nicht oder nur als fernes Hintergrundgeräusch wahr. Und dann wieder drängt sie sich ins Zentrum unserer Existenz, fordert uns heraus, konfrontiert uns mit dem Schmerz, der das Menschsein eben auch ist. Da kann man noch so behütet sein. Auch Siddharta sah trotz aller Bemühungen seiner Eltern, dass hinter den Palastmauern Krankheit, Alter und Tod lauerten. Und gerade die Konfrontation damit war ein unumgängliches Ereignis dafür, dass er zum Buddha, zum Erwachten, werden konnte.
That’s how the light gets in.
Das ist eine Liebeserklärung an das Menschsein. Und damit auch an die Urwunde.
Sie kann viele Facetten, viele Formen haben. Vielleicht das grundlegende Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens. Des Unverstanden-Seins. Des Keinen-Platz-In-der Welt-Habens. Vielleicht ist es auch ein gar nicht so genau lokalisierbarer Schmerz über das Leid in der Welt. Ein Schmerz, der sich auch in Zorn äußern kann. Oder das Nicht-Gut-Genug-Seins. Liebe nur im Austausch gegen Leistung zu bekommen. Die Formen der Urwunde sind Legion.
Es gibt so viele Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien, um diese Wunde nicht wahrnehmen zu müssen. Die können auch für lange Zeiträume beachtlich effizient funktionieren. Und doch: Diese Strategien bringen keine Heilung. Und wenn das, was im Untergrund vor sich dahingeschwärt hat, aufbricht, dann ist es wieder da, das Grenzenlos-Unfassbare.
Die menschliche Heldenreise besteht vor allem darin: Den Ruf dieser Urwunde zu vernehmen. Sich ihrer Botschaft zu stellen. Und aus dieser Verletzung und Verletzlichkeit so zu leben, so zu sein, so zu handeln, dass aus dem vermeintlichen Sumpf dieser Urwunde die Lotusblüte der Liebe wachsen kann.
Ein berührendes archetypisches Bild aus der griechischen Mythologie ist der Zentaur Chiron, der verwundete Heiler. Er kann nur heilen, weil er selbst leidet, um das Leiden weiß – und zwar nicht aus Lehrbüchern, sondern aus seinem eigenen Erleben. Schließlich verzichtet er zugunsten von Prometheus auf die eigene Unsterblichkeit und wird von Zeus als Sternbild des Zentauren an den Himmel gesetzt.
C.G. Jung formuliert diesen Zusammenhang, dass Menschlichkeit, Empathie, Heilungskraft und Urwunde in einem ursächlichen Zusammenhang stehen so:
„Nur wo der Arzt selbst getroffen ist, wirkt er. Nur der Verwundete heilt. Wo aber der Arzt einen Persona-Panzer hat, wirkt er nicht.“
Und meiner Ansicht nach kann man in diesem Zitat das Wort „Arzt“ getrost durch das Wort „Mensch“ ersetzen.
Eine ganz natürliche Reaktion auf Schmerz ist, diesen Schmerz weghaben zu wollen. Idealerweise durch ein Tablettchen, das alles ohne großartiges eigenes Zutun wegmacht. Leider müssen wir aber feststellen, dass solche Wundermittelchen nicht existieren. Medikamente haben Nebenwirkungen, und für das Wegmachen der Urwunde ist das entsprechende Kräutlein wohl noch nicht gefunden. Beziehungsweise gar nicht auffindbar – so weit kann Kundry gar nicht reisen, um einen heilenden Balsam für den leidenden Gralskönig Amfortas zu finden. Dessen Urwunde wird sich erst schließen, wenn Parsifal sie mit dem Speer, der diese Wunde schlug, berührt. Und das bedeutet die Rückkehr in die Einheit, aus weltlicher Sicht gesehen also den Tod. Das Loswerden-Wollen der Wunde ist aber nicht nur vergeblich, sondern sogar kontraproduktiv. So wie Patienten mit Rückenschmerzen unnatürliche Schonhaltungen einnehmen, um den Schmerz möglichst zu vermeiden und dann, wenn das ursprüngliche Leiden schon längst ausgeheilt ist, noch intensiveren Schmerz durch die Vermeidungsstrategie erfahren.
Wie also umgehen mit der Urwunde?
Auch hier hilft mir ein Bild aus einer anderen Tradition. Eine traditionelle japanische Technik, das Kintsugi, verwendet Gold, um zerbrochene Keramik-Tassen und -Teller wieder zusammenzufügen, und so aus dem scheinbar Defekten ein ganz besonderes Kunstwerk zu schaffen.
That’s how the light gets in.
Nicht vermeiden.
Umarmen.
Das klingt wahrscheinlich ziemlich seltsam. Und ist es dem gegenüber, was wir gewöhnt sind, nämlich dem Impuls der Vermeidung und Verdrängung nachzugeben, wohl auch.
Aber meinem Erfahren nach ist das der Weg. Die Heldenreise, die zur Heilung führt.
Und hier sei es ganz klar noch einmal gesagt: Heilung bedeutet nicht das Verschwinden der Wunde. Es ist das Akzeptieren und Integrieren der Wunde. Das Begreifen, dass die Urwunde ein Teil der heiligen Ordnung ist. Das ist keine Schmerz- und Leidensverliebtheit. Sondern das Erkennen von allem, was ist, als perfekt, als vollkommen. Von ALLEM. Und das ist eine Pille, die unser Ego nicht gerne schlucken mag.
Der Schmerz der Wunde wird immer wieder fühlbar sein. Und die Schönheit der Welt wird immer atemberaubender, je mehr dieser Schmerz bejaht werden kann. In der klassischen Astrologie ist es Saturn, Chronos, der strenge Herr der Zeit, der alle sieben Jahre kommt, um dich zu prüfen. In meinem Leben habe ich diesen Siebener-Rhythmus nicht so strikt erfahren. Aber so ungefähr kommt’s schon hin. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass jeder Mensch in seinem eigenen Tempo durch die Zeit geht. Aber das wäre wieder eine eigene Geschichte.
Hab den Mut, dein eigener Chiron zu sein. Kein anderer Mensch kann das für dich tun.
UND: Es gibt die Gnade der Begegnung. Der Liebe. Des Haltens und Gehalten-Seins. Eine Gnade kannst du nicht erzwingen. Aber du kannst dich ihr öffnen. Und dann – das ist wieder mein persönliches Erfahren und das Erfahren, das ich mit vielen Menschen, die ich schon begleiten durfte, teile – wird sie dir auch zuteil. Nicht immer in der Form, wie du sie dir erträumt hast. Das Festhalten an der Form, an der Erwartung, ist eine Haltung, die die Gnade, die an deiner Haustür anklopft, abweist.
Hingabe.
Hingabe an die Wahrheit, dass dein Leben – so wie es ist, Urwunde inklusive – das persönliche Gesicht Gottes ist, das du in diese Welt bringst.
Wenn du durch diese Hingabe eins wirst mit der Urwunde und der unendlichen Schönheit dieser Welt – das ist es, was in vielen Traditionen als Erwachen, Erleuchtung oder Befreiung bezeichnet wird.
Mögen Wunder geschehen. Das Potenzial dazu ist in jedem Moment vorhanden.
Lieber Maximilian! Dein Text hat es aber diesmal ganz besonders in sich! Ich habe ihn gestern am Abend begonnen zu lesen und er hat mich dann bis nach Mitternacht nicht losgelassen. Ich musste nachdenken, schreiben - und vice versa. Und so hat dieser Kommentar einen ziemlichen "Speckgürtel" angesetzt. Merkwürdig (oder auch sonnenklar?) war, dass ich, bevor ich den obigen weiterführenden Link gelesen habe, schon das Bild in Facebook mit dem Gral assoziiert habe, wie er im Meer seiner Undeutbarkeit steht. Niemand weiß bekanntlich, wie er sich ihn vorstellen darf: als Achatschale mit großem Durchmesser und mysteriöser (angeblicher) Schrift (Wiener Schatzkammer), oder doch als Kelch wie in Valencia, León oder San Juan de la Pena, oder gar als Stein wie bei…